Twitter ist tot, lang lebe Twitter
Brauchen wir noch einen digitalen, öffentlichen Marktplatz oder ist die Idee generell gescheitert?
Vielleicht ist die Idee eines digitalen Marktplatzes, auf dem sich alle treffen und ihre Streits austragen, konsequent veraltet. Twitter hat jahrelang sehr gut funktioniert für exakt diesen Zweck, war der Ort für jeden, der dieses Bedürfnis spürt, über ein einfach und leicht zugängliches, digitales Tool am öffentlichen Diskurs teilnehmen zu wollen, ohne dafür Autor einer Zeitung oder politischer Akteur werden zu müssen. Besteht aktuell die Gefahr, dass wir dieses einmalige Werkzeug wegwerfen? Und wäre das überhaupt problematisch?
Warum Twitter so gut dafür funktioniert
Polit-Kriege und 24/7 währende Kämpfe zwischen verschiedenen ideologischen Gruppen (man könnte es “öffentlicher Diskurs” nennen) sind seit spätestens Beginn der Corona-Pandemie 2020 der wesentliche Kern-Inhalt von Twitter. Man kann sich keine Timeline konstruieren, die nicht von diesen Themen beherrscht wird (und ich habe es jahrelang versucht, wollte mich immer wieder ausklinken und nur noch Kunst und Kultur lesen, es ist nicht möglich).
Twitter ist zutiefst politisch und es ist zutiefst auch auf den politischen Streit zwischen verschiedenen Fraktionen ausgelegt (und funktioniert sogar am Besten, wenn es nur zwei Fraktionen gibt). Das liegt am Design der Plattform: Jeder Tweet ist per Default öffentlich und kann von jedem kommentiert werden, ein wesentlicher Unterschied zu den geschlossenen Gruppen, Communities und Freundeskreisen anderer Plattformen. Auf Twitter kommt es natürlicherweise zum Clash und Kampf zwischen den Ideologien, das wurde von Twitter, der Firma, auch jahrelang gefördert: Funktionen wie der “Quote Tweet” (auf Deutsch umgangssprachlich oft “Drüko” für “Drüberkommentar” genannt, eine Funktion, die erlaubt, einen Kommentar zu einem fremden Inhalt im eigenen Stream zu veröffentlichen) sind nicht umsonst als “Dunk Function” bekannt geworden, als die Funktion, die es erlaubt, den verfeindeten Fraktionen richtig eins reinzuwürgen.
Und so wird die Funktion auch massenhaft, oft sogar mehrheitlich bei einem Tweet genutzt: Ein simples “Dümmster Tweets des Jahres :)” über einen anderen Tweet, der einem nicht gefällt und in der Regel ist der Applaus der eigenen Gruppe sicher und der Beef eröffnet. Und das erhöht natürlich für die Plattform auch massiv die Interactions und Clicks, denn nichts ist für User interessanter als der Streit zwischen anderen Usern (Quelle: Beobachtung von Impressions meiner Tweets über 10 Jahre).
Twitter ist für den Zusammenstoß und Streit von verfeindeten Gruppen also quasi ideal aufgestellt mit einer Gleichzeitigkeit von asymmetrischer Follower-Funktionalität (mein Tribe und meine Connections) und gleichzeitiger Offenheit von allen Inhalten (der Gegner, den man jederzeit gemeinsam angreifen kann), selbst wenn das in den ersten Jahren der Plattform (vor der Ankunft der Journalisten und Politiker, als es sich noch im Wesentlichen um eine freundliche und kreative Nerd-Community handelte) noch niemandem so richtig klar war.
Und jahrelang hat dieses System auch sehr gut funktioniert, war einigermaßen in Balance und fühlte sich tatsächlich an wie “die digitale Öffentlichkeit”. Zwar gab es immer wieder Konservative, die sich zensiert und unterdrückt fühlten und zunehmend in den letzten Jahren zahlreiche Versuche dieser Gruppen, ihre eigenen Social Networks zu gründen (Gab, Parler, Truth Social), aber keiner dieser Abspaltungs-Versuche konnte auch nur im Ansatz die Schwelle zur Relevanz überspringen. Es wirkt zumindest naheliegend, dass eine Plattform mit nur gleichgesinnten Usern im Vergleich zu dem Ort, an dem die tatsächlichen Kämpfe ausgetragen werden, wesentlich weniger interessant ist. Aber ist das wirklich so?
Elom Mucks und die kippende Balance
Nun könnte die Balance allerdings kippen: Seit der Übernahme von Twitter durch den Unternehmer Elon Musk gegen Ende Oktober vermuten mehr und mehr Nutzer einen Bias in die genau andere Richtung. Auch wenn einige reine Twitter-Celebrities, die vorsichtig ausgedrückt über sonst eher geringe praktische Fähigkeiten verfügen, seit Monaten immer wieder ihren Abschied ankündigen, um dann wechselseitig doch “im Widerstand” oder “als Partisanen” ein paar Stunden später normal weiterzutwittern, ist die Stimmung gereizt bis zumindest gefühlt nahe am Kipp-Punkt. Vereinzelt haben auch tatsächlich große User die Plattform verlassen, sehr viele betreiben parallel Accounts auf alternativen Plattformen wie Mastodon. Auch die ständigen und beinahe täglichen Versicherungen von Elon Musk, die “Nutzung [von Twitter] wäre auf einem Alltime-High” und unbeholfene Versuche, Links zu Mastodon zu unterbinden, wirken mehr und mehr verzweifelt.
Wäre es aber überhaupt ein Problem, wenn Twitter untergehen würde? Kann Mastodon vielleicht einfach das Gleiche leisten, das Twitter kann? Es wirkt zumindest auf den ersten Blick genau wie das weiter oben beschriebene Kaffeekränzchen zwischen Gleichgesinnten, schlimmer noch, es sind viele gleichgesinnte Fürstentümer (Instanzen), die individuell über Regeln entscheiden und darüber, mit wem sie sonst kommunizieren. Hier ist es nicht nur möglich, dass einzelne Admins via Geburtsrecht (weil sie halt den Server aufgesetzt haben) darüber entscheiden, wer überhaupt einen Account bekommt, sondern ganze Communities können abgeschnitten werden (was vereinzelt schon passiert ist, wie der einigermaßen lustige Fall einer Instanz zeigt, in der sich Journalisten einen Elite-Club basteln wollten, nur um dann festzustellen, dass sehr viele andere Instanzen mit diesem nichts zu tun haben wollen). Eine echte Lösung, ein öffentlicher und wirklich freier Town Square ist freilich das Gegenteil. Nicht die Mastodon-Instanzen müssten dezentral sein, sondern die User-Accounts an sich (hierzu bitte alles lesen, was Jack Dorsey in den letzten Monaten über offenes Social Media geschrieben hat). Die Dezentralität der Infrastruktur an sich löst wohl leider erstmal nicht alle Probleme, sondern könnte sie sogar multiplizieren.
Eine zweite deprimierende Erkenntnis, die man nach zwei Monaten Musk-Twitter vermutlich festhalten kann: Die andere Seite zu “canceln” könnte eine Art generelles menschliches Bedürfnis zu sein. Nachdem kürzlich veröffentlicht wurde (wenn auch mit einer deutlichen Überdramatisierung), dass Twitter entgegen jahrelanger Beteuerung des Gegenteils eben doch Deplattforming und Shadowbanning betrieben hat, wandelt sich aktuell der “Free Speech Absolutist” und Twitter-Neubesitzer Elon Musik in kürzester Zeit zum Chief Censor, ändert die Regeln mehr oder minder zufällig und bannt random Nutzer, die ihm nicht in den Kram passen. Und auch auf Mastodon wird schon vereinzelt von willkürlichen Accountsperrungen berichtet. Hier liegt das Problem wie erwähnt noch viel tiefer, denn jede Instanz (d.h. jeder Server) hat komplett eigene Regeln und einen eigenen Admin, der als kleiner Lokalfürst quasi beliebig Accounts sperren kann. Statt einem Crazy Elon haben wir es hier potentiell mit Tausenden zu tun. Ist diese Art von dezentraler Willkür wirklich die bessere Alternative? Was müsste denn eine öffentliche Plattform haben, die nicht in die Richtung kippt, dass sich Nutzer irgendwann gegenseitig bannen wollen? Geht das überhaupt? Es bleibt fraglich.
Geht öffentliches Social Media jemals gut?
Vermutlich wäre am Ende doch eine Social Media-Plattform die beste Lösung, auf der jeder alles veröffentlichen darf, solange es nicht Gesetzen widerspricht und auf der auch lediglich Gerichte Nutzer endgültig suspendieren können. Eine skandalöse Idee in den Ohren von allen, die hier sofort “aber wir können doch nicht erlauben, dass die ungehindert ihr Zeug verbreiten” denken, aber die Rechtssysteme der “echten” Welt sind am Ende vielleicht doch einiges länger bewährt als die zufälligen Hausregeln von Tech-Konzernen.
Nach der schönen Theorie fangen die Probleme allerdings relativ schnell an, denn Gesetze existieren nur auf Landes- oder Staatenverbundsebene und unterscheiden sich deutlich voneinander. Das Internet hingegen ist global. Wer sollte hier regulieren? Was bedeutet Redefreiheit, wenn ein Amerikaner mit einem Deutschen kommuniziert? Wessen Regeln würden hier greifen? Wer würde eine solche Plattform finanzieren? Sollte sie staatlich sein? Von welchem Staat?
Selbst wenn eine Einigung in irgendeiner Art möglich wäre: So lange eine solche Plattform (hier kann man die Hater schon verächtlich “öffentlich-rechtliches Social Media?!” kotzen hören) noch nicht existiert und so lange man noch der Idee anhängen will, dass ein offener, öffentlicher Digitaler Town Square eine sinnvolle Idee und besser als nur fragmentierte Mini-Öffentlichkeiten ist, so lange bleibt Twitter vermutlich noch relevant. Wie lange das ist, steht in den Sternen.
Vielleicht aber ist auch die Idee eines digitalen Marktplatzes, auf dem sich alle treffen und ihre Streits austragen, konsequent veraltet. Vielleicht ist das Experiment “wir sperren alle in einen Raum und das gegenseitige Einschlagen der Köpfe wird unterhaltsam und produktiv für die Gesellschaft” grundsätzlich grandios gescheitert und wir brauchen stattdessen viele kleine Twitter.
Ich persönlich hoffe es nicht, es liegt meiner Beobachtung nach viel zu viel Wert darin, alle gesellschaftlichen Gruppen an einem Ort diskutieren zu lassen, auch wenn der ganze Vorgang von außen oft eher destruktiv wirkt.