Ich habe ADHS. Eine erste Bestandsaufnahme zu “meiner Getriebenheit”.
Hallo, ich bin Sebastian. Ich bin Art Director. Designer. UX’ler. Produktmanager. Consultant. Ich mache Musik. Ich spiele Gitarre, gerne auch Klavier. Bass nebenbei. Schlagzeug habe ich eine Weile versucht, dann gelernt, die Drums zu programmieren. Über den Umweg auch Musikproduktion. Im Herzen bin ich aber Künstler. Ich male. Ich photographiere sehr viel. Zuerst Landschaften, dann Natur, dann Makros, dann Menschen. Jahrelang habe ich freie Kunst gemacht. Wahnsinnig viel Kunst. Abstrakte Bilder. Action-Paintings. Performances. Nenn mir eine kreative oder musikalische Tätigkeit, ich hab sie gemacht. Ich bin hauptberuflich im Großbereich Design tätig. Ich bin gerne draußen. Ich wandere, ich mache Road Trips, ich übernachte im Wald. Ich photographiere die ganze Zeit, während ich im Wald bin. Ich schreibe wahnsinnig viel. Ich habe Beiträge für viele Zeitungen geschrieben, zuerst Lokalpolitik, dann für Musikmagazine, später für ein Fotomagazin, danach drei Blogs, dann literarische Kurzgeschichten, die in Anthologien publiziert wurden bei teilweise sehr großen Verlagen. Ich twittere ununterbrochen über eine ganze Reihe von verschiedenen Themen. Eine Weile habe ich Brettspiele gesammelt und war besessen davon, die Regeln für alle zu lernen. Es waren am Ende 150 davon und ich habe jeden Abend YouTube-Videos über neue Spiele geguckt, statt die endlich mal zu spielen, die ich schon hatte und deren Regeln ich auswendig konnte. Ich fing an, eigene Brettspiele zu erfinden und zu designen. Ein Jahr später habe ich Graphic Novels gesammelt. In meinem Regal stapelt sich tonnenweise klassische bis moderne Literatur, die ich nie gelesen habe. Habe ich erzählt, dass ich 14 Semester lang Literatur, Linguistik und Soziologie studiert und nebenbei zig andere Dinge gemacht habe? Philosophie auch. Ich gehe sehr gerne Klettern, Bouldern und Bergsteigen. Ich mache Bodybuilding. Bei meinem früheren Arbeitgeber hieß ich “Die Ein-Mann-Agentur”, weil ich nicht nur ein Konzept schreiben konnte, sondern auch das ganze Projekt fertig designen und die Kommunikation und das Marketing dazu entwerfen.
Ich habe höchstwahrscheinlich ADHS. Meine letzte Freundin, die ich wahnsinnig geliebt habe und mir der ich sehr ernsthaft eine Zukunft geplant hatte, hat sich deswegen von mir getrennt, aber da kannte ich diesen Begriff noch gar nicht und wusste nicht, dass mit mir etwas anders ist als mit anderen Menschen. Sie hat es Deine Getriebenheit genannt und es hat sie wohl einigermaßen gestresst, was ich inzwischen ganz gut verstehen kann. Über den Begriff “Getriebenheit” bin ich erst auf die Idee gekommen, darüber zu reden und herauszufinden, woher das Ganze kommen könnte. Es hörte zu dem Zeitpunkt auch nie auf. Ich machte den ganzen Tag Sachen. Ich wachte auf und fing damit an, zu tun und hörte erst auf, als ich zu Bett ging. Ich habe morgens Liegestütze, Klimmzüge, Workouts gemacht, sobald mein Körper anwesend war, dann war ich Einkaufen, dann Arbeiten, dann den Nebenjob erledigt, Abends dann Musik, danach die anderen Hobbies, zwischendurch immer wieder twittern und schreiben, interessante Gerichte kochen und willst Du vielleicht heute schon wieder ein neues Brettspiel lernen? Wenn nicht, dann lese ich noch zwei Graphic Novels zum Einschlafen und trinke ein paar Bier, um überhaupt runterzukommen. Morgen geht das Ganze wieder von vorne los.
Schon mein ganzes Leben lang habe ich mich gefragt, was mit mir anders ist als mit anderen Menschen. Warum ich so irrsinnig viel Energie habe, mich in Sachen reinzustürzen und reinzunerden, bis ich wirklich alles darüber weiß und einfach gar nicht vorher aufhören kann. Aber auch, warum ich es nicht schaffe, mich mal für eine Sache zu entscheiden, obwohl ich wahnsinnig gut in Dingen werden kann, wenn ich mich dafür begeistere. Warum mich immer so extrem viel interessiert. Warum ich nicht einfach beim Gitarre spielen bleiben kann, sondern auch noch Bass, Klavier und Gesang lernen muss, um eine ganze Band zu sein, obwohl doch Musik eh nur das Dritthobby sein sollte, verdammt. Ich war zeitweise fast wütend auf normale Menschen, weil die es nicht mal interessiert, von ihrer angeblichen Lieblingsband sämtliche Alben, Songs, B-Seiten und Live-Tracks zu sammeln, die Lyrics auswendig zu kennen und zu lernen, wie man die Songs spielt. Wie wenig kann man sich interessieren? So dachte ich. Ich mache das doch bei 50 Bands, sogar bei welchen, die nicht mal besonders mag, aber musikalisch interessant finde. Und ich mache das ganz nebenbei neben all den anderen Sachen. Aber ich habe auch immer gefragt, und das ist die sehr dunkle Seite davon, warum ich es gleichzeitig nicht schaffe, den Abwasch zu erledigen, die Wäsche zu waschen oder meine Post zu öffnen. Warum meine Wohnung so unaufgeräumt aussieht, dass ich niemanden reinlassen will. Und warum ich viel zu oft zu viel Alkohol trinke und keinen Zucker essen kann, ohne gleich zuckersüchtig zu werden, keine Serien gucken, ohne gleich tagelang die ganze Staffel am Stück sehen zu müssen und alles darüber zu lesen, was es zu lesen gibt.
Es hat am Ende wohl alles den gleichen Grund, aber ich habe zwischen all diesen Dingen nie irgendeine Art von Verbindung herstellen können, bis mich ein paar Menschen im Internet und meine Therapeutin unabhängig voneinander darauf aufmerksam gemacht haben, was das “Problem” sein könnte. Inzwischen weiß ich, dass sich das mit dem Reinnerden Hyperfokus nennt und dass mein Gehirn eine Störung im chemischen Gleichgewicht hat, besonders bezogen auf Dopamin. Das ist der Kern von ADHS, vermutlich. Zumindest bei mir. Ich kann mich wahnsinnig gut motivieren, Dinge zu tun, die mich interessieren und so gut wie gar nicht für alltägliche Dinge, weil das Basis-Level an Dopamin in meinem Kopf zu gering ist. Wobei “Störung” vermutlich auch der falsche Begriff ist. Ich wehre mich jetzt schon gegen diese Bezeichnung, sie fühlt sich an, als wäre ich irgendwie fehlerhaft. Wir funktionieren einfach anders. Manche nennen es neurodivergent. Der Begriff gefällt mir besser. Wir sind auch suchtanfälliger, risikofreudiger, wir sind immer schnell dabei bei der Suche nach dem nächsten aufregenden Kick, dem tollen Ding von morgen. Wir sind deswegen vermutlich sehr mitreißend. Ich steige immer bis zum Gipfel bei jedem Berg, den ich betrete, selbst wenn ich dann schon völlig erschöpft oben ankomme und nicht mehr weiß, wie ich noch den Rückweg schaffen kann. Ich lerne inzwischen auch gerne Menschen kennen. Alle Arten von verschiedenen Menschen. Du bist Elektriker, Raketenwissenschaftler, Biologe, Accountant, HR Mitarbeiter? Wahnsinnig spannend, erzähl mal was davon. Alles, das neu und shiny und spannend ist, interessiert uns. Langweilige Dinge motivieren uns wenig bis gar nicht. Ich schaffe sie nur mit mit Listen, mit Gamification-Hacks, Accountability-Vereinbarungen und Checklisten. Man hat mir schon oft gesagt, ich wäre faul in Bezug auf Hausarbeit und mies im Umgang mit Geld. Das stimmt, zumindest von außen betrachtet. Aber es ist kein böser Wille. Ich kann diese Dinge einfach nicht gut. Auch deswegen sind auch Beziehungen gescheitert.
Ich will es gar nicht nur negativ sehen: Diese Veranlagung, das ADHS, hat mich wahnsinnig weit getragen und mir endlose Chancen und Möglichkeiten eröffnet. Es ist ein wichtiger Teil von mir ich will auf keinen Fall klein reden, wie viel es mir in meinem Leben schon geholfen hat, so zu sein. Wie viel ich diesen Eigenschaften zu verdanken habe. Aber es hat am Ende dann doch auch immer wieder mein Leben zerstört. Es hat mein Leben zerstört, weil ich nicht wusste, dass ich es habe und nicht wusste, wie ich damit umgehen und es runter regulieren kann, damit andere Menschen auch mal Schritt halten können mit der Getriebenheit.
Ich hoffe, dass ich genau das nun besser lernen kann. Es gibt unendlich viele Quellen, Studien und Ansätze darüber. Das Internet ist voll mit Erfahrungsberichten, Hilfe-Foren und YouTube-Vorträgen zu dem Thema. Es gibt zig Tik Toker, die über nichts anderes reden. Und hey: Wenn ich eins wirklich gut kann, dann The-Hell-aus-dem-Internet-rausrecherchieren, bis ich über eine Sache wirklich ALLES weiß. Ich werde es in den Griff kriegen und bin wahnsinnig dankbar, das endlich über mich gelernt zu haben. Und ich fange schon damit an. Meditation, Achtsamkeitstraining, Yoga, Verhaltenstherapie? Interessiert mich selbstverständlich.
Ich bin am Ende dann doch kein Alien und ich bin auch nicht besonders special, ich bin einfach nur im Kopf etwas anders verdrahtet. Es tut mir wahnsinnig tut gut, das mit 40 Jahren endlich so formulieren zu können.